Avantgardistische Metamorphosen

Avantgardistische Metamorphosen

Gedanken zur Bilderwelt des Michael Munding anlässlich der Ausstellung Michael Munding, „Bilderzauber“, Malerei und Objekte im Kloster Heiligkreuztal.

Unsere Ausstellung mit Gemälden und Objekten Michael Mundings trägt den Titel Bilderzauber. Malerei und Objekte. Dass wir es bei der Bilderwelt des Malers Michael Munding mit Serien zu tun haben, was mit unserem Ausstellungskonzept für Heiligkreuztal korrespondiert, ist vielleicht hier, wo wir diese Bilderwelt ja nur mit einigen wenigen großen, großartigen Gemälden kennen lernen, nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Das war, jedenfalls für mich, damals, als wir uns zum ersten Mal begegneten, sehr viel einfacher. Denn da sah ich von ihm etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: nämlich Postkarten. Sie werden lachen, wenn sie das hören, und denken: wie nun? Natürlich war das, was ich damals kennen lernte von ihm ernster, als das Stichwort. Denn es waren – fast möchte man sagen: altmeisterlich – gemalte Ansichtskarten, ganze Serien, im Format DIN A 6, auf Kupferplatten, wohlgemerkt. Aber das war auf den ersten, oberflächlichen Blick nicht zu erkennen. Denn diese Bilder, diese auf Kupfer gemalten Miniaturen, steckten in Kartenständern – wie am Kiosk oder im Souveniergeschäft. Von solchen Miniaturen gibt es inzwischen Hunderte, also durchaus etwas, das den Namen Serie verdient. Übrigens hat es mit den Ansichtskarten bei Munding eine besondere – vielleicht darf man sagen: werkgenetische – Bewandtnis. Sie sind zu seinen bevorzugten Objekten geworden, sozusagen zu einem vehement motivierenden Fundus und zu einem Motivarsenal. Auch biografische Momente sind dafür von Bedeutung. Denn Postkarten sammelt Munding seit Kindertagen, mit unstillbarer Leidenschaft: insbesondere Ansichtskarten, aber auch Kunstkarten. Gleichsam als illustratives oder ikonisches Tagebuch und aide mémoire für Reise- und Bildeindrücke aus Kinder- und späteren Tagen, von beruflichen Lebensstationen, Studien- und Stipendienaufenthalten oder, was aber oft identisch ist, eben Reisen: der Schwarzwald und andere Bergregionen, Nürnberg, Krakau, Florenz, USA, Kanada usw. Gedächtnisstützen also auf der einen und obsessive, sich gleichsam verselbständigende Sammlungswucherungen auf der anderen Seite. Da finden sich inzwischen Abertausende von Karten. Ob Munding sie systematisch ordnet, weiß ich nicht. Was aber auffällt ist, dass zufällig Gefundenes und intensiv Gesuchtes, Gag und Trouvaille gleichermaßen Eingang finden in die Sammlungen des Künstlers, oder anders gesagt: dass beides – Gefundenes und Gesuchtes – ineinander übergeht, sich vermischt, zum Archiv wird, zum Arsenal, zum Vorlagendepot für Bildideen und Bildfindungen.

Bildideen, genauer Bildfindungen, das scheint mir wichtig. Findungen – und nicht einfach Er-Findungen. Mit seinem Bilder-Arsenal verhält es sich bei Munding wohl ähnlich, wie bei anderen namhaften Künstlern der Gegenwart. Ich erinnere an Gerhard Richters berühmt gewordenen sog. Atlas, eine gigantische Sammlung aus Zeitungs- und eigenen Fotos, Collagen, Skizzen usw., aus denen Bilder generiert werden. Oder an Günther Ueckers infinitesimale, fast nie öffentlich gezeigte Aquarellserien von seinen unzähligen Reisen und Aufenthalten. Die stehen, alle in identischem Format, in seinem Atelier in Düsseldorf herum, normalerweise mit dem Gesicht zur Wand, bis sie, bei Bedarf hervorgeholt und teppichartig auf dem Boden ausgebreitet werden zu bildgedankengenerierenden Ikonostasen, wenn man so will. Bei Mundings Karten könnte man vielleicht – über die jedem Sammler eigene Manie hinaus – in dem Moment, in dem er ihre Bildwürdigkeit durch Gebrauch manifestiert, von so etwas einem objet trouvé sprechen. Aber das stimmt nicht ganz. Denn bei ihm findet kein Kunstersatz und auch keine deklamatorische Inanspruchnahme von Alltäglichem statt, etwa wie bei Marcel Duchamps berühmt-berüchtigter, als Kunstwerk museumswürdig proklamierter Kloschüssel. Und es handelt sich auch nicht einfach um eine Art überhöhender Übertragung von Fertigkeiten in Bildsprachen, erworben und trainiert durch mehr oder weniger meisterhafte Plakatmalerei, wie bei manchen Repräsentanten der Leipziger Schule. Also weder Kunstersatz, noch ein gewollt verkünstlichter Kunstgebrauch, wenn man so sagen darf. Was aber dann?

Auch dem knappen Dutzend großformatiger Gemälde, die hier in unserer Ausstellung zu sehen und zu bestaunen sind, ist ihre Herkunft von – oder sagen wir: ihre Verwandtschaft mit den Ansichts- und Kunstpostkartenbildern des Michael Munding, von denen ich erzählt habe, durchaus noch anzusehen. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, weil sie nun halt ziemlich groß sind und sich dadurch gewissermaßen solitär präsentieren. Nicht auf den ersten Blick, aber auf den zweiten und dritten – je länger, desto merklicher. Ein Gefühl des déjà vu stellt sich ein beim Betrachter: Irgendwo, irgendwie scheint man das alles schon einmal gesehen zu haben; gerade so und doch anders. Da fallen einem die Ansichtskarten wieder ein – und die Kunstkarten aus den Museen auch, etwa von Niederländern des 16. bis 18. Jahrhunderts zum Beispiel bei den Blumenstücken – nur hat man die viel kleiner in Erinnerung.

Tatsächlich verkleinert nun auch unser Gehirn diese monumentalen Gebilde Mundings bei längerer Betrachtung. Was er auf riesige Formate zoomt, zoomt das Gehirn wieder zurück auf bekannte, vertraute Größen. Dann plötzlich erinnert man sich: Ansichts-Karten – bunte Feriengrüße aus nah und fern. Oder Werbeflyer und Plakate aus Reisebüros. Oder Kunstkarten aus Museen und Galerien oder Fotos aus Kunstbänden. Wir beobachten fotorealistisch anmutende Landschaften und Ansichten, sog. Veduten, Tier- oder Blumenbilder, Seestücke usw. Manches erinnert uns auch an die Werke der Künstler, die, vor Erfindung der Fotografie, als Expeditionsmaler die Entdeckungsreisen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts begleitet haben: als Dokumentaristen also. Deren minutiöse Präzision begeistert ja bis heute, nicht weniger, als ein knappes Jahrhundert früher, die berühmten Bilder der Insekten-, Pflanzen-, Surinam-Dokumentaristin Maria Sibylla Merian. Tatsächlich fußen deren Versiertheiten ja auf den bildnerischen und maltechnischen Errungenschaften einer seit der Renaissance, aber dann vor allem im Barock höchste und kunstvollste Blüten treibenden Stilllebenmalerei, einem künstlerischen Feld und Genre eigener Art. Nichtsdestoweniger weiß man aber schon seit der Antike auch um die Gefahren des bildnerischen Realismus oder Naturalismus, um seine Täuschungspotentiale. Bekannt sind die gemalten Trauben des Zeuxis, nach denen die Vögel wie nach echten picken. Da gibt es also das Phänomen der Augentäuschung – trompe l’oeuil heißt der kunstthoretische Fachausdruck dafür. Tatsächlich ist aber die Augentäuschung nur ein Phänomen unter den Sinnestäuschungen mannigfacher Art. Der Renaissancephilosoph Francis Bacon hat für die ganzen Täuschungspotentiale eine eigene Idolenlehre entwickelt. Täuschungen also und Täuschungspotentiale; transitiv und intransitiv, wenn man so will. Man kann das nun freilich auch im übertragenen Sinn betrachten und verstehen. Dann zeigt sich – und das ist für die Entwicklung der Kunst im 20. Jh. von besonderem Belang – ein Rückgang des Mimetischen, also der Nachahmung. Die wird geradezu zum Unkünstlerischen par excellence gestempelt. Nicht nach der Natur, sondern wie die Natur zu arbeiten habe der Künstler, hieß es dazu einmal.

Es scheint, als setzte sich Munding mit seiner Malerei keck über solche Verbote und Direktiven hinweg. Hinter solch vermeintlicher Kühnheit lauert natürlich stets die Gefahr eines Rückfalls – in Naivität zum Beispiel. Letztere, zumal als falsche, ist bekanntlich das Terrain der Sonntagsmaler. Dass es auch informelle Sonntagsmaler gibt, und zwar mehr als man denkt, sei hier nur angemerkt. Nun ist es aber interessant – wie man auch schon früher wusste und heute in anderen Zusammenhängen wieder neu erkennt – dass es so etwas gibt wie eine realitätskonstitutive Präsenz des Beobachters. Mit anderen Worten: man sieht nie bloß, was man sieht, sondern man sieht im Akt des Sehens immer sich mit. Das Sehen realisiert das Gesehene als etwas zu Sehendes und bleibt doch selbst blind für diesen Sachverhalt. Wahrnehmung und Fürwahrhalten vermischen sich dabei und werden geradezu ununterscheidbar. Die Überprüfung der Echtheit oder Authentizität von Bildern wird in einer Zeit, in der – wie Siegfried Kracauer einmal formulierte – die Welt sich ein Fotografiergesicht zugelegt hat, zum Problem. Wie schwer aber dieses Problem zu lösen ist, kann man beim Übergang von der analogen zur digitalen Fotografie jeden Tag an den Fotos in der Zeitung beobachten, von anderen, noch komplizierteren bildgebenden Verfahren und ihren Produkten ganz zu schweigen. Das vermeintlich Wirklichkeitsgetreueste wird unmerklich und unbeobachtbar rasch und leicht zum Virtuellen. Dabei muss noch gar keine Manipulation im Spiel sein. Es scheint, als wäre es gleichsam die Organisation und Mechanik unseres Gehirns, die solches bewirkt dadurch, dass sie danach strebt, Unbekanntes auf Bekanntes, Noch-nie-Gesehenes auf Vertrautes zurück zu führen. Wenn man so will, könnte man darin so etwas wie einen blinden Fleck der Erkenntnis konstatieren, sozusagen ein systembedingtes Manko, eine konditionelle Inkompetenz. Man könnte auch von Schwindel sprechen. Man muss sich nicht betrogen fühlen dabei, aber schwindlig werden mag einem schon.

Mundings Bilderwelt, so scheint mir, führt das auf eine sehr eigenartige und eigenständige Weise vor Augen. Eigenartig und eigenständig. Oder, mit anderen Worten: höchst reflektiert. Die Wirklichkeit, auf die seine Bilderwelt sich bezieht, sind Bilder. Man kann auch sagen, Munding benutzt Bildvorlagen. Es ist zurecht bemerkt worden, dass es sich dabei um bisher kaum beachtete Bildvorlagen (Dietmar Schuth) handelt – eben um Ansichtskarten. Die Wirklichkeit aber, die diese Bildvorlagen zu zeigen vorgeben, hat den Charakter einer Illusion, also einer Täuschung, wenn man so sagen darf. Damit ist nichts generell Negatives gemeint, erst recht nichts Moralisches, sondern zunächst einfach etwas Optisches: eben An-Sichten. Weil Täuschung trotzdem ein bisschen negativ klingt, sollte man vielleicht besser sagen, die Wirklichkeit dieser Bildvorlagen hat nicht den Charakter einer Widerspiegelung, sondern den einer Konstruktion. Was prima vista als simple Widerspiegelung erscheint, ist also in Wirklichkeit etwas anderes: nämlich eine Reproduktion. Vielleicht kann man so sagen: Der Bezugspunkt der Munding’schen Bilderwelt ist die Wirklichkeit von Bildern als Bilder, also etwas Künstliches. Es sind aber Bilder – von Ansichts-Karten war ja die Rede – also Bilder, die entweder selbst vorgeben, die Wirklichkeit zu sein oder die uns so vorkommen, als zeigten sie die Wirklichkeit. Das lässt sich nicht immer deutlich unterscheiden. Denn eben diese Bilder – vom ‚Schwarzwaldmädel’ bis zum ‚Alpenpanorama’ – solche Reproduktionen haben sich in unserem Bewusstsein als Bilder von Wirklichkeit formiert und sedimentiert. Und als solche generieren und steuern sie unsere Gedanken und Empfindungen. Trägt man dem Rechnung, dann zeigt sich ihr Täuschendes als eine Vermischung von Mimetischem und Unmimetischem, wobei in letzterem ein subjektiver und ein geschichtlich-gesellschaftlicher Anteil steckt. Das vermeintlich Naturgetreue hat also den Charakter einer Trübung des Gedächtnisses oder erscheint als deren unwillkürliche Wirkung. Weil sie unwillkürlich ist, empfinden wir sie aber als realistisch und/oder authentisch.

Mundings Bilderwelt macht diesen Unterschied bewusst, indem sie den Prozess in gewisser Weise rückgängig macht. Man könnte auch sagen, indem sie ihn dekonstruiert. Rückgängig durch Wiederholung. Ich möchte es avantgardistische Metamorphosen nennen, was der Maler Michael Munding macht. Wandlungen und Verwandlungen, die etwas Neues und Genuines bringen. Indem Munding Reproduktionen fotorealistisch reproduziert – aber eben als Gemälde – bringt er den Betrachter auf die Spur einer Enträtselung. Einer Enträtselung des Amalgams von Gedanken und Empfindungen, aus dem unser Leben besteht und durch das unser Bewusstsein taumelt. Einer Enträtselung, die den Charakter einer Versöhnung hat – nicht den einer Bestreitung oder Beseitigung. Einer Enträtselung, die etwas zurückgewinnt oder zulässt. Nämlich neben der verunsichernden Frage nach der Bildwürdigkeit des zu Sehenden, nach seinem Retro- oder Reprocharakter, eine klammheimliche Freude über die Rückkehr des immer schon, wenn auch etwas verschämt, gern Gesehenen und eine Rehabilitierung der dies begleitenden Empfindungen. Damit werden der zeitgenössischen Kunst Motive zurückgewonnen, die lange als verdächtig, verpönt, ja verboten angesehen wurden. Zu nennen sind hier in unserer Ausstellung Landschafts- und Stadtansichten, See- und mehrere altmeisterlich-grandios gemalte Blumenstücke sowie einige skulpturale Objekte. Die Beständigkeit des malgré lui Vertrauten und die avantgardistische Irritation einer daran schwelgenden Beschaulichkeit gehen Hand in Hand. Und aus noch oder wieder neu staunender Anschauung wird dabei nolens volens eine vertiefte Selbst-Betrachtung. Also, wenn man so will, nicht nur eine reflektierte, sondern eine reflektierende Naivität, die den Charakter einer aktiven Aufklärung über sich selbst besitzt und als solche zugleich den einer Kontemplation ganz eigener Art. Einer Selbst-Betrachtung, die mit Selbstprüfung und Wertschätzung zu tun hat.

Dr. Michael Kessler

Top
MICHAEL MUNDING