Alte Ansichten und neue Sichtweisen
Ansichtskarten sind ein Stückchen Urlaub auf Papier, eine Art Reisedokument mit dem Stempel ‚ich war da!‘ Sie zeigen alles Wichtige und Sehenswerte eines Reiseziels, so dass manche Urlauber gerne zu allererst auf die Kartenständer zugehen, ehe sie nach den Originalen suchen. Denn Ansichtskarten filtern die Welt und zeigen nur das, was möglichst vielen gefällt und wichtig erscheint. Schließlich werden sie in hohen Auflagen gedruckt und wollen eine möglichst breite Käuferschicht ansprechen.
Historisch betrachtet begann der Aufstieg der Ansichtskarte zum Massenprodukt in den 1950er Jahren, als Europa für Amerikaner sehr billig war, und die Deutschen sich langsam anschickten, Reiseweltmeister werden zu wollen. So spiegeln diese Karten mit ihrer Hochglanzfolie stets auch ein Stück Zeitgeschichte, erzählen von der Reiselust der Deutschen in den Wirtschaftswunderjahren, der besonderen Liebe zu Italien und anderen Südländern wie auch von der romantischen Sehnsucht nach großen Naturwundern.
Auch Michael Munding verbindet mit vielen seiner Karten biografische Beziehungen, wie zum Beispiel bei den zahlreichen Motiven aus dem Schwarzwald, den er schon als Kind mit den Eltern bereiste. Andere dokumentieren seine beruflichen Lebensstationen: Karten aus Nürnberg erinnern an sein Kunststudium ebenda, Karten aus Polen an sein Stipendium in Krakau 1988/89, Karten aus Florenz an sein Villa-Romana-Stipendium 1998. Hinzu kommen zwei Stipendien in den USA und Reisen nach Kanada.
Seit seiner Jugend sammelt Michael Munding Ansichtskarten wie andere Leute Briefmarken und besitzt mittlerweile Tausende davon. Schon während seines Studiums in den 1980er Jahren an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg begann er damit, allen Vorurteilen und Vorbehalten zum Trotz, diese eigenartige Bildwelt zu malen und Fotografien in klassische Malerei umzusetzen. Zunächst vom genormten Postkartenformat DIN A 6 ausgehend, malte er Hunderte solcher Karten auf Kupferplatten und präsentierte diese in seinen Ausstellungen in echten Postkartenhaltern aus dem Souvenirladen.
Mit der Zeit löste sich Munding von dieser ungewöhnlichen Miniaturmalerei und vergrößerte die kleinen Karten. Immer von den rechteckigen Proportionen einer Postkarte ausgehend, zoomt er seine Bilder mittlerweile auf riesige Formate. Die meisten Bilder werden literweise mit Lack versiegelt und auf Hochglanz geschliffen und poliert, so dass sie wie echte Postkarten aussehen. Die Betrachter müssen lange schauen, um die fotorealistischen Bilder als echte Malerei zu erkennen. Manche Bilder erreichen Höhen von fast 3 m und Breiten von über 4 m und vergrößern damit eine einfache Postkarte fast tausendfach. In der Ausstellung des Kunstvereins Schwetzingen in den Räumen der Orangerie des Schwetzinger Schlosses füllen sie die 6 m hohe und 60 m lange Wand fast mühelos. An die Wand gelehnt stehen sie wie zufällig hingestellt und evozieren so ein Ateliersituation, ein studiolo.
Was interessiert nun einen akademisch studierten Maler an dieser eigentümlichen Bildwelt? Warum reproduziert er diese Reproduktionen von Welt? Will er die Kunstwelt schockieren und die Schöngeister brüskieren wie einst Marcel Duchamp, der banale Gebrauchsgegenstände zur Kunst erhob und in den Museen platzierte? Ist Michael Munding ein postpostmoderner Vertreter der amerikanischen Pop-Art, die erstmals die triviale Welt der modernen Konsumkultur als bildwürdig betrachtete? Ist er ein Vertreter des Hyperrealismus, der das Konzept der Pop-Art ins Überdimensionale steigerte?
Alle angesprochenen Möglichkeiten einer kunsthistorischen Einordnung sind nicht von der Hand zu weisen, doch Michael Munding ist ein Kind des alten Europa und begnügt sich nicht mit effektvollen Provokationen. Noch vor 200 oder 300 Jahren wäre auch er sicherlich ein klassischer Landschafts-, Veduten-, Tier- und Blumenmaler geworden und wie ein Albrecht Dürer mit dem Aquarellblock durch die Welt gereist. Doch so operieren heute nur noch Sonntagsmaler. Akademische Künstler mit avantgardistischem Anspruch suchen stattdessen eine mediale Brechung und originäre Bildfindung, die so noch nie gesehen wurde. In diesem Sinne hat Munding eine Form von avantgardistischer Landschafts-, Veduten-, Tier- und Blumenmalerei entwickelt, die eine bis dahin kaum beachtete Bildvorlage benutzt.
Munding verleiht der guten alten Ansichtskarte also eine unerhörte Aufwertung. Das für den trivialen Massentourismus produzierte Bild wird von einem Künstler neu ästhetisiert und wechselt vom Kiosk in einen Kunstverein. Mithilfe dieser Metamorphose gelangen wieder Motive in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, die bereits im 20. Jahrhundert ausgestorben schienen: dramatische Berglandschaften, Tiere in freier Natur, Sonnenuntergänge, Seestücke, Stadtveduten, Architekturporträts von weltberühmten Bauwerken mit Baedeker-Sternen bis hin zu ethnologischen Motiven wie den Schwarzwaldmädeln mit roten Bollerhüten.
Eine Ansichtskarte an sich mag nicht unbedingt bildwürdig sein, doch das was sie zeigt, ist es durchaus. Viel zu lange sind viel zu viele elitäre Bildungsreisende durch die authentischen Gassen geschlichen, um nur ja nicht dem Massentourismus zu begegnen, haben sich beispielösweise strikt geweigert, sich in die Schlange vor den Uffizien in Florenz einzureihen und den David von Michelangelo auch nur von hinten anzuschauen. Doch die avantgardistische Konzeption des Michael Munding gestattet es all diesen Menschen, sich den Dom von Florenz und seine Weltwunderkuppel und alles andere auch wieder anzuschauen, ohne sich dafür zu schämen.
In diesem Sinne gelingt Michael Munding eine Art Versöhnung. Denn Ansichtskarten dokumentieren eher den altmodischen Blick auf die Motive dieser Welt und haben letztlich die vormoderne Sichtweise der romantischen und realistischen Kunst des 19. Jahrhunderts konserviert. Munding bringt diese Sichtweise wieder ins 21. Jahrhundert zurück, so dass alle auf ihre Kosten kommen. Jene, die der aktuellen Kunst immer Neues abverlangen, sind zufrieden, die Konservativen, die sich endlich wieder an grandiosen Bergkulissen oder hübschen Schwarzwaldmädeln erfreuen können, fühlen sich ebenfalls bestätigt.
Dr. Dietmar Schuth