Verkannte Karten

Verkannte Karten

Ein Gruß an Michael Munding, der auch weiß, was die wahren Dinge wert sind

Diese nur 10,5 x 14,8 Zentimeter große Ansicht von Florenz ist mehr wert als alle Gemälde der Uffizien, denkt der Liebhaber der schönen Künste und betrachtet entzückt das kleine Bild. Endlich eine Entdeckung! Nicht ganz leicht zu datieren übrigens. Er fragt den Händler Der streift seine Brille von den Haaren auf die Nase, greift nach der Kostbarkeit, geht damit ans Fenster. Frühe sechziger Jahre, sagt er. Der Interessent nimmt das Bild wieder an sich. Wie achtlos der Händler es angefaßt hat! Mit diesem dicken Daumen! Jetzt muß die Entscheidung fallen. Kaufen oder nicht kaufen, das ist die Frage. Wieviel? Der Händler wiegt den Kopf. Siebenhundertfünfzig! Er klingt nicht so, als ob er noch mit sich handeln ließe. Der Preis ist happig. Bei aller Liebhaberei! Frühe sechziger Jahre: Das ist nun nicht gerade eine Blütezeit gewesen.

Der noch unentschlossene Käufer hatte mit maximal vierhundert gerechnet. Es gibt Kunstwerke, die an Wert verlieren, wenn sie zu teuer sind. Er betrachtet noch einmal das Bild. Lohnt es sich wirklich? Es kann bei Ankäufen nach dem Zahlen von unangemessen hohen Summen zu regelrechten Katerstimmungen kommen. Dann will man das eben erworbene Werk am liebsten wieder loswerden. Dies hier würde einem keiner mehr abnehmen. Es zeigt wahrhaftig nichts Besonderes, das ist das Besondere. Florenz ohne Domkuppel, ohne irgendeine Kirche. Das ist schon eine ungewöhnliche Perspektive. Nur die Brücke über den Arno, ein paar schmucklose Häuser Zwei rätselhafte Passanten beleben die Ansicht.
Der Kunde zahlt, nimmt die Neuerwerbung an sich und geht, jetzt doch befreit und zufrieden, auf die Straße hinaus. Der Händler kommt ihm nach und ruft „Francobolli?“ Der Kunde winkt ab: „no, grazie!“
Es handelte sich nicht um den Erwerb eines kunsthistorischen Kleinods, sondern um einen Postkartenkauf im Sommer 1998. Eine Ansichtskarte für ein paar Pfennige kann einen Kenner in dieselben Wallungen bringen wie ein Zehnmillionen-Dollar-Bild von Piero della Francesca einen Sammler der Frührenaissance. Siebenhundertfünzig Lire hat die Karte gekostet, das sind fast achtzig Pfennige. Die am Schluß noch angebotene Briefmarke hat der neue Besitzer nicht haben wollen. Er wird die Karte nicht verschicken. Kein Mensch würde dafür Verständnis haben. Nur er allein weiß diese miserablen Farben zu schätzen: verblaßt, verblaut, vergilbt in einem. Das Auto am linken Bildrand abgeschnitten. Florenz sieht aus wie Bielefeld. Falls es in Bielefeld einen Fluß gibt. Ein Stadtbild, austauschbar bis zum Gehtnichtmehr Das ist es eben: Die trostlose Stimmung dieser unglaublich charakterlosen Aufnahme ist übertragbar Ein Wunder: Obwohl sich der Fotograf absolut nichts gedacht haben kann, obwohl sein Blick gänzlich uninspiriert ist, entfaltet das windige Machwerk den Geist dieser Jahre. Völlig absichtslos kommt hier der ziellose und unausgegorene Existentialismus pur zum Vorschein, der einen in den italienischen und französischen Filmen der sechziger Jahre einst ergriff und der einen heute befremdet.

Die röhrenden Futuristen haben in einem Rennwagen mehr Kunst gesehen als in der Nike von Samothrake, und die Dada-Filous haben pfiffig Pissoirs und Flaschentrockner zur Kunst erklärt. Beuys und die Fluxusbastler schließlich haben aus ausgequetschten Uhutuben, durchgefetteten Brühwürfeln und aus dem Kuvert gerissenen Briefmarken Stilleben arrangiert, die, wenn man sie in empfänglicher Laune betrachtet, durchaus etwas Rührendes haben.

Daß auch Unrat und Krempel Kunst sein oder zur Kunst werden kann, ist eine Verabredung, die seit bald hundert Jahren besteht. Nicht immer springt der Funke über Ein an der Wand lehnender Besen in einem Museum oder gar in einem kahlen Ausstellungsraum der großen documenta stößt nicht nur auf Verständnis des Publikums. Als der Künstler den Besen an seinem Ursprungsort lehnen sah, mochte er eine Ausdruckskraft haben. Die hat sich auf dem Weg ins Museum verloren.
Die Anpreisung eines obskuren Medikaments in der Bildzeitung, die man in der U-Bahn beim Nachbarn mitliest, kann einen unter Umständen gründlicher erheitern als ein kunstvoller Vers von Hölderlin. „Rezept für länger leben“ steht da, rot umrandet. Gegen diese Zeile können alle Dichter einpacken. Doch auch hier stellt sich die Frage, wieviel Originalambiente nötig wäre, um die situationsabhängige Weisheit der vier Worte zu erhalten. Abgeschrieben sind sie ohne jeden Wert. Aus der Zeitung geschnitten und an die Wand gehängt, sind sie auch noch viel zu dürftig. Der alte Mann, der die absurde Volkszeitung liest, gehört dazu. Wer von diesem objet trouvé berührt oder begeistert ist und es sich aneignen wollte, der müßte sich den U-Bahn-Wagen mitsamt dem in Polyester gegossenen Alten und der Originalschrottzeitung ins Wohnzimmer stellen. Viel Aufwand.

Wer für Reize von Ansichtskarten empfänglich ist, hat es leichter Sie sind billig und mühelos zu transportieren. Sie werden für ihren Liebhaber zur Kunst, wie der Bildzeitungsleser in der U-Bahn, wie der Besen an der documenta-Wand, wie die Brühwürfel von Beuys und das Pißbecken von Duchamps, wie die Breughels in Wien, die Raffaels in Rom, die Monets in Paris. Eine simple Karte, ob umsonst aus dem Sperrmüll gefischt oder zum Wucherpreis von zwei Mark erstanden, kann ebenso heftig beglücken wie das geniale Werk eines großen Meisters. Sie muß nicht versichert und sie wird nicht gestohlen werden, aber sie kann verschwinden, und der Verlust schmerzt den leidenschaftlichen Besitzer nicht anders als eine versehentlich mit dem Altpapier abhanden gekommene Radierung von Rembrandt.
Es gibt Millionen verschiedener Ansichtskarten. 99,9 Prozent sind völlig undiskutabel. Jede Tausendste nur ist einen näheren Blick wert, davon halten die wenigsten eine kritische Begutachtung aus. Nur das Unprätentiöse zählt. Kaum hat ein Fotograf künstlerische Ambitionen, ist seine Ansicht wertlos. Von einer vierwöchigen Reise bringt der wirklich kritische Sammler nicht mehr als ein knappes Dutzend Karten als Beute mit. Die aber haben es in sich. Jede Karte ein Kosmos. Manchmal kommt es vor, daß Karten den Transport nicht aushalten. Sie verlieren in der fremden Umgebung ihre Wirkung, für die sie als Feriengrußkarte doch bestimmt sind. Ein erfahrener Sammler vermeidet solche Fehlkäufe und hamstert von besonders zeitlosen Motiven mehrere Exemplare. Wer weiß, ob sich nicht doch jemand findet, der sich für das unerhörte Meisterwerk begeistern läßt.

Das nämlich wurmt den Liebhaber seltener Ansichtskarten schon: daß er sein Glück fast nie mit jemanden teilen kann. Daß ein Bild von Gauguin etwas taugt, ist eine geläufige Meinung, daß aber eine billige Sonnenuntergangsansicht vom Comer See keinesfalls kitschig sein muß, sondern ebenso tiefe Träume wecken kann und vielleicht sogar weniger verlogen ist als die berühmten Tahiti-Landschaften, das ist eine Ansicht, mit der nicht so leicht durchzukommen ist.
In Vernissagen schwärmt das kunstsinnige Publikum in seiner ganz eigenen Sprache, oder es lästert lauthals. Es gibt tausend Geschmäcker, aber doch immerhin ein paar Kriterien, die es erlauben, über die ausgestellten Kunstwerke wenn auch nicht vernünftig zu reden, so doch wenigstens unvernünftig zu schwafeln. Für die Beurteilung von Ansichtskarten gibt es keinerlei Kriterien. Der Liebhaber ist ganz allein auf sich gestellt. Der Kunstgehalt des Brühwürfels ist längst mit klugen Worten bestätigt. Die Karte aber, die nichts als den Strand von Rimini oder den Park von Krakau zeigt, kann nur der sensible Kenner als Kunstwerk erkennen. Es gibt keine fertigen Argumente, um anderen den Reiz und das Geheimnis einer ordinären Ansichtskarte nahezubringen. Oft ist es nur die miserable Reproduktion, die der Karte Charme und die entscheidende Aura verleiht.

Daß die hohe Auflage einer Ansichtskarte sie wertlos macht, ist eine ganz und gar falsche Vorstellung aus dem Druckgrafikhandel. Die Funktion dieser Karten ist es, einen flüchtigen Gruß aus der Ferne zu übermitteln. Sie landen, nachdem sie ein paar Tage bei ihren Empfängern herumlagen, im Papierkorb. Keiner außer dem Liebhaber erkennt ihren Wert. Der Fotograf nicht, der Drucker nicht, der Kartenverlag nicht, das Fremdenverkehrsbüro nicht, der Souvenirhändler nicht. Kein Künstler war je so verkannt wie eine Ansichtskarte. In Büros werden sie an die Wand gepinnt und später durch neue ersetzt. Eine noch so große Auflage verschwindet spurlos. Eines von fünftausend Exemplaren kann im Handumdrehen ein Unikat sein. Dieser Werdegang verleiht der Karte genügend Aura, die ihr als einem industriellen Reproduktionsprodukt von vorlauten Walter-Benjamin-Nachbetern zunächst abgesprochen wird.

Aura erhält eine Ansichtskarte auch, wenn man sie begehrt und sich um sie bemüht. Wer sich je mittags um eins in einem kleinen italienischen Dorf in eine Karte vergaffte, die hinter der Schaufensterscheibe eines verschlossenen Tabakladens unerreichbar war, der weiß, wie dieses Serienprodukt stündlich an Aura gewinnt. Bis 5 Uhr warten? Dann erst öffnet der Laden wieder Da wollte man schon 300 Kilometer weiter südlich sein. Aber kann und will man ohne diese Karte weiterleben? So, wie sie da im Drehständer im dunklen Laden steckt, sieht sie besser aus als alles, was die wirklich guten Macchiaoli je gemalt haben. Was aber, wenn man tatsächlich vier Stunden wartet, und dann hält sie von Nahem nicht, was sie auf die Entfernung verspricht? Der Liebhaber ist außer sich. Kein zu versteigernder Picasso kann mehr Gefühle aufwühlen.

Oder man erblickt durch den Schalter einer Autozulassungsstelle eine Urlaubsgrußpostkarte im Kabuff der Sachbearbeiterin. Wie man dann das Mißtrauen abbauen muß, um an die Karte heranzukommen, die nichts weiter als ein Ufer mit Kähnen zeigt und die doch Seligkeit in Aussicht stellt und zu einem stundenlangen Spaziergang der Augen einlädt.
Man muß sie in Ehren halten, die Ansichtskarten, sie haben keine Lobby. Man muß sie retten. Wegen jeder bedrohten Tierart wird gespendet, bei den Karten sterben ganze Stilrichtungen unbemerkt aus. Die höchste Form der Wertschätzung ist es, Karten mit dem Pinsel zu kopieren, Originale aus der ehemaligen Massenware zu machen. Nur so kann man den Ahnunglosen, die für Ansichtskarten nichts als ein abfälliges Lächeln übrig haben, den Kunstwert mancher Exemplare vor Augen halten.

Joseph von Westphalen, 1998

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